Unter dem Radar - Amestigon (Black Metal)
Review

Unter dem Radar - Amestigon (Black Metal)

Okay - wenn wir ehrlich sind, dürften Bands, deren Wurzeln bis in die 90er ragen, keinen Eintrag in unserer Rubrik mehr wert sein, oder? Alles bekannt, alles kvlt, alles schon gehört. Bei der Wiener Truppe Amestigon scheint die Lage anders, wenn auch die Musiker hinter dem Projekt mit anderen Acts viel bekannter sind.

  • von Haimaxia
  • 16.04.2022

1995 in der Hauptstadt Wien von Abigor-Standartenträger Thomas Tannenberger zusammengebracht gründeten die Musiker Tharen (u.a. Dargaard) und Thurisaz (u.a. Heidenreich) das Projekt Amestigon. 1998 trat eine aus heutiger Sicht berühmtere Person zum Ensemble dazu: Silenius (yes, der Silenius, den man von seinem total unbekannten "Nebenprojekt" Summoning kennt). Natürlich wird den eingefleischten Kennern von Abigor und Summoning auch dieses Projekt keine Unbekannte in der Gleichung sein - und trotzdem scheinen große Teile der Anhängerschaft der Wiener bzw. Österreicher-90er-Black Metal-Outputs Amestigon weniger ein Begriff zu sein - warum ist das so?

Zum einen wäre da die Sache, dass unter dem Namen Amestigon bis ins Jahr 2002 nur Demos, EPs und Splits mit u.a. Angizia (ja, Freunde der Gothic-Avantgarde: DIE Angizia) und Hellbound erschienen sind - dazu kommt, dass es in den Jahren 2002 bis 2010 weitgehend still um das Projekt war, bis 2010 endlich ein lang geplantes Debüt-Full Length unter dem Namen "Sun of all Suns" erschien. Ab hier scheinen Amestigon auch erst richtig ihren Signature-Stil gefunden zu haben, atmosphärischer, dichter Black Metal in ausgedehnten Sintfluten von musikalischer Überlast. Wer sich Musik aus der Ära vor dem Album anhört, wird natürlich feststellen, dass -dem Zeitgeist geschuldet- die 90er-Releases von Amestigon weit roher und heißblütiger daherkommen, allen voran die EP "Höllentanz" mit seinem für heutige Verhältnisse immer noch kultigen, aber auch dünneren Sound. 

1998 traten noch Gitarrist Herr Wolf und Gitarrist/Bassist Jörg Lanz zum Projekt hinzu - noch eine Persona, die Anhängern der österreichischen Musikszene kein Unbekannter sein dürfte, handelt es sich doch um den Gitarristen der mittlerweile eingemotteten, über die Jahre immer wieder kontrovers gehandelten Neofolk-Vorzeigeband Der Blutharsch, dessen Frontmann Albin Julius kürzlich verstorben ist. (Hier hatten wir darüber berichtet.) Warum kontrovers? Kurz abgehandelt: Der Blutharsch durften sich über die Jahre immer wieder wegen ihrer martialischen Auftritte und des immer wieder aufkeimenden Neofolk-Esprits, der oft von Heimat und Traditionsbewusstsein begleitet wird, Nähe zu rechtsradikalem Gedankengut vorwerfen lassen, welche aber (mittlerweile) hinreichend dementiert und abgelehnt wurde - bloß, dass diese immer wieder abgeschmetterte Kritik gerne auch auf Abigor, Summoning und eben auch Amestigon überschwappte.

Nach 2010 erschienen neben zwei Compilations noch 2015 das womöglich stärkste bisherige Output "Thier", um das es weiter unten gehen soll, sowie zwei weitere Splits, u.a. mit Heretic Cult Redeemer (2019) und "SamaeLilith: A Conjunction of the Fireborn", eine größere Kollaboration mit Inconcessus Lux Lucis, Shaarimoth und Thy Darkened Shade, Letztere erst vergangenes Jahr.

Aktuelle Besetzung

Silenius - Vocals

Tharen - Vocals, Drums, Keyboards

Jörg Lanz - Guitars, Bass

Herr Wolf - Guitars

 

Diskographie

1995 - Mysterious Realms (Demo)

1995 - Through The Ages We Preserve... (Demo)

1996 - Mysterious Realms / Heidebilder (Split /w Angizia)

1998 - Höllentanz (EP)

2000 - Remembering Ancient Origins (EP)

2002 - Fatal Illumination / Nebelung, 1384 (Split /w Hellbound)

2013 - And The Dark Were Unleashed (Compilation)

2010 – Sun of all Suns (Album)

2015 – Thier (Album)

2017 - Through The Ages We Preserve... / Mysterious Realms (Compilation)

2019 - Amestigon / Heretic Cult Redeemer (Split)

2021 - SamaeLilith: A Conjunction of the Fireborn (Split /w Inconcessus Lux Lucis, Shaarimoth & Thy Darkened Shade)

 

Review zu "Thier"

Wie einsteigen in eine Platte, die so komplex, so ausufernd in ihren Ausmaßen, so tiefschürfend in ihrem Naturell ist? Zunächst einmal könnte man damit beginnen, dass das epochale Album auf vier Säulen in Form von vier Liedern steht, die allesamt mitreißende, atmosphärisch dichte, geradezu rauschhafte Meisterwerke geworden sind. Eine Tatsache, die nicht überraschen dürfte, wenn man sich vor Augen führt, welche Musiker bei Amestigon am Werk sind. Mit nur vier Songs kommt man trotzdem auf eine Gesamtlänge von einer knappen Zeitstunde. Eine Zeitstunde, die einen Tauchgang ins Chaos, einen Klagegesang von Misanthropie und Horror darstellt. Eine Reise zum "Thier" im Menschen (alte Rechtschreibung des Wortes Tier, die im 19. Jahrhundert gebräuchlich war), ein Befreiungsschlag, eine Entfesselung, eine Katharsis. 

Während dieser Gratwanderung driften Amestigon immer wieder in einen beschwörerischen, beinahe liturgischen Duktus ab, durch den Einsatz von Chor-Gesang (ähnlich wie es auch später Batushka machen sollten) oder einer progressiven Songstruktur, nachdem im Grunde gebetsmühlenartig nur wenige Textpassagen beständig wiederholt und anders in den Song eingebaut vorgetragen werden. Doch dabei kommen die Black Metal-Kaskaden nicht zu kurz. 

Zudem driftet man immer wieder in religiöse Gefilde ab: Werden bei "Demiurg" noch aus der Perspektive des Schöpfers, mutmaßlich eines oder sogar DES christlichen Gottes, Passagen wie "I rape the silence", "I build for peace" oder "I call for violence" wiederholt, geht es beim Stück "358", benannt nach dem hebräischen Zahlcode für den Messias, um Motive aus der Offenbarung der Bibel. Letzterem wurde auch ein okkultes Musikvideo spendiert, welches die kreierte Atmosphäre perfekt bebildert. Doch nicht nur Motive aus dem Christentum werden hier aufgegriffen: Im Titeltrack, der die 20-Minuten-Marke knackt, greift man auch auf Begriffe aus dem indischen Tantra zurück. Hier fahren die Vocals auch zu ihrem größten Wahnsinn in der Tonalität auf: Während der Stil bei den übrigen Liedern eher gleich in seinen unaufgeregten Growls bleibt, brechen Silenius und Tharen hier gehörig aus sich heraus.

Dies alles pflanzt dem Hörer bestimmte Assoziationen ein, die das Hirn arbeiten lassen, jeder Song für sich. Dies eint auch alle vier Songs, die Tatsache, dass sie ihre Zuhörerschaft ordentlich bannen können und dieser einiges abverlangen, wenn man sich die Zeit nimmt, sich näher mit ihnen auseinanderzusetzen. Amestigons Sound kann dadurch anspruchsvoll werden - oder man lässt sich einfach mitreißen, überfluten und von Bord spülen von den Instrumentalpassagen, die große Parts der langen Songs ausmachen. Mal brechen diese in totaler Ekstase hervor, mal sind es sanfte Gitarren- und Bassspuren, mal driftet man in Drone und Noise ab. Die Arrangements sind hierbei teils atemberaubend und auch verrückt: Mal paaren sich Orgel-Sounds mit flüsternden Stimmen aus dem Off, die den Song durch die Unterbrechung in mehrere Kapitel einteilen, mal hört man ein fernes Schlagzeug, beinahe im Lo-Fi-Style. 

Das finale Stück "Hochpolung" markiert wohl das Magnum Opus von "Thier". Man könnte Amestigon vom Text her den Vorwurf machen, dass sie mal mit Spiritualität und Okkultismus kokettieren, hier aber den Menschen ein wenig "entzaubern" - kein Gewicht hat der Mensch in der Welt, keine Bedeutung seine Tugend, seine Vernunft oder seine Vorstellung von Gerechtigkeit. Keine Götter diktieren dem Menschen seinen Weg - den muss er selbst wählen. Musikalisch fährt man hier noch einmal einiges auf, ehe sich der Song in totalem Chaos entlädt. Das ist einfach beeindruckendes Songwriting. Und wenn noch einmal jemand belächeln sollte, dass Black Metal auch eine Kunstform sein kann, dann möge man ihm Amestigon vorlegen. 

You must have chaos in yourselves, to give birth to a dancing star.

Trackliste:

01. Demiurg
02. 358
03. Thier
04. Hochpolung

9.5
PUNKTE
Bewertung

"Thier" ist so reichhaltig an Aspekten, aus denen man schöpfen kann und in denen man sich als Hörer verlieren kann, dass es auch 7 Jahre nach Release noch ungemein beeindruckt. Explosiv, von den Texten her kryptisch und hermetisch, ausufernd und doch nicht einfach nur eine unzugängliche Soundwand oder ein Gebräu, mit dem man nichts anfangen könnte. Wer seinen Black Metal lieber knackig und schnörkellos präsentiert bekommt, der wird Amestigons Musik wohl als pseudo-intellektuellen Bombast abtun - für diejenigen, die Black Metal auch mal eskalativ und intensiv mögen und die einen langen Atem haben, dürften die Platten von Amestigon wohl eine wahre Oase sein. Ihr merkt - wir sind hin und weg!

Band

  • Amestigon

Album Titel

  • Thier

Erscheinungsdatum

  • 28.05.2015
Haimaxia

He whispers, when the demons come. Do you make peace with them or do you become one of them?

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